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Die Deutsche Bundesbank geht davon aus, dass die Inflationsrate noch in diesem Jahr über 4 Prozent steigen wird. Gleichzeitig signalisiert die EZB-Präsidentin Christine Lagarde weitere geldpolitische Unterstützung der Europäischen Zentralbank. Damit setzt Frau Lagarde ihre bisherige Politik fort. Die EZB hat bislang Schulden in der Größe von über 3,1 Billionen Euro aufgekauft. Aktuell erwirbt sie sogar die komplette Neuverschuldung der Eurostaaten und bezahlt diese mit Geld aus dem Nichts. Wie passt das zusammen? Hat die EZB nicht angekündigt, dass sie ein Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ anstrebt? Bundesbankpräsident Jens Weidmann und Christine Lagarde wollen sich nicht öffentlich widersprechen. Doch es wird deutlich, dass die nächsten Wochen und Monate nicht einfach werden. Denn beide Ziele, die Inflationssteuerung und die Bereitstellung günstiger Kreditkonditionen für Staaten, Banken und Unternehmen, widersprechen sich – nicht sofort, aber auf Sicht.
Die Ursache ist in erster Linie in der expansiven Geldpolitik der EZB zu suchen. Der Satz von Milton Friedman „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen“ ist auch heute noch richtig. Die bislang aufgestaute Inflation bricht sich jetzt Bahn. Bislang hat der technische Fortschritt, im Wesentlichen getrieben durch die Digitalisierung und die ökonomische Entwicklung Chinas, die Inflationserwartung in Deutschland und der EU gehemmt. Eine Liberalisierung des Welthandels mit offenen Märkten trug auch dazu bei. Sie war der Neutralisator zur Inflationspolitik der EZB. Mit dem Unterbrechen von Lieferketten und einer ins Stottern kommenden Globalisierung droht jetzt ein jähes Ende.
Ein nicht zu unterschätzender Faktor war in dem Zusammenhang der Brexit. Die Ungewissheit über die weitere Beziehung zwischen EU und Großbritannien hat viele Unternehmen auf beiden Seiten verunsichert. Es wurde nur noch auf Sicht gefahren, nicht mehr investiert und Lagerbestände wurden aufgebaut, um die Unterbrechung der Lieferketten abzumildern. Allein die Ankündigung und Erwartung des Brexits hat den Warenexport aus Deutschland auf die Insel von 89 Milliarden Euro (2015) auf 66,9 Milliarden Euro (2020) einbrechen lassen. Die britische Statistik-Behörde hat für das erste Quartal 2021 sogar einen Rückgang des gesamten Warenverkehrs mit der EU um 23,1 Prozent bekanntgegeben. Mit Nicht-EU-Staaten sank er dagegen nur um 0,8 Prozent.
Dann kam ab letztem Jahr als massiv destabilisierender Faktor die Pandemie hinzu. Auch sie hat Lieferketten unterbrochen. Wenn Menschen nicht mehr reisen, ihre Kunden besuchen oder Maschinen warten und installieren können, dann wirkt sich das negativ auf die internationale Arbeitsteilung aus. Das Auslaufen der akuten Pandemie wird die sichtbare Inflation dann beschleunigen. Der aufgestaute Konsum trifft plötzlich auf eine Angebotslage, die wegen eines Mangels an Rohstoffen, Komponenten und Teilen nicht schnell genug hochgefahren werden kann. Die Inflation droht in einem solchen Szenario, nicht sukzessive anzusteigen, sondern wie der Ketchup aus der Flasche zu entweichen.
Die jüngste Blockade des Suez-Kanals durch das Container-Schiff „Ever given“ hat der labilen Lage noch einen zusätzlichen Schlag verpasst. Eine Woche war die wichtigste Verbindung zwischen Asien und Europa unterbrochen. 370 Schiffen, darunter 25 Öltankern, wurde die Durchfahrt zwischen Rotem und Mittelmeer versperrt. Die Lage hatte unmittelbar Auswirkungen für uns. Immerhin 13 Prozent des Welthandels laufen in normalen Zeiten über den Suez-Kanal. Knappheiten an den Rohstoff-Märkten wurden durch diesen Unfall zweifellos noch einmal verschärft. Wie die vielen neuen Stolpersteine der Globalisierung wirken werden, kann man hier im Brennglas beobachten.
Eigentlich müsste in dieser Situation die EZB ihre Geldpolitik straffen: Im ersten Schritt die Anleihenkaufprogramme zurückfahren und den Zins für Einlagen von Banken bei der Zentralbank aus dem negativen Bereich führen. Allerdings ist die EZB dazu praktisch nicht mehr in der Lage. Die Staaten, Banken und Unternehmen in der Eurozone hängen inzwischen wie Süchtige am Tropf der EZB. Sie sind abhängig von den niedrigen Zinsen. Würden diese über eine längere Zeit ansteigen, würde das Kartenhaus an Schulden zusammenbrechen. Die Kredite könnten von den Schuldnern nicht mehr bedient werden. Insolvenzen würden drohen und eine Wirtschaftskrise nach der Pandemie wäre die Folge.
Daher ist es wahrscheinlich, dass der Schuldenlast über eine erhöhte Inflation der Konsumgüterpreise begegnet werden soll, während dem Sparer durch eine verschärfte Fortsetzung der Null- und Negativzinspolitik der EZB sukzessive die Erträge entzogen werden. Es findet eine zweifache kalte Enteignung statt – die der Konsumenten und die der Sparer.
Die Vermögensgüter werden dagegen weiter haussieren. Die Börsen, aber auch die Immobilienmärkte profitieren davon. Das führt zu weiteren Umverteilungseffekten von Arm zu Reich. Diese Ungerechtigkeit ist nicht durch Märkte verursacht, sondern durch Staaten und die Geldpolitik der Zentralbanken. Es gibt einen Ausweg aus dieser Abwärtsspirale, aber dazu braucht es Mut: Mut zu einer unabhängigen und stabilitätsorientierten Geldpolitik. Und Mut, der Globalisierung wieder einen Schub zu verpassen.
Der Gastkommentar erschien exklusiv in der WELT