Der Staat ist in Deutschland ein Heilsbringer

Der Staat ist in Deutschland ein Heilsbringer

Interview mit der Schweizer Zeitung „Die Südostschweiz“ in Chur

Seit 26 Jahren ist Frank Schäffler Mitglied der deutschen FDP. Acht Jahre sass der querdenkende liberale Politiker im Deutschen Bundestag. Im Interview äußert er sich zur Liberalismus-Krise und dem Schweizer Freisinn.

Mit Frank Schäffler sprach Milena Caderas

Herr Schäffler, der Liberalismus steckt in einer Krise …

Frank Schäffler: Halt! Ganz und gar nicht. Es gibt so viele Freiheitsinseln, die sich ausserhalb der Parteien entwickeln. Nur ein Beispiel, das es mittlerweile auch in der Schweiz gibt: Students for Liberty. Das ist eine weltweite Jugendorganisation von klassisch Liberalen. Es gibt ganz viel parteipolitisches Engagement. Der organisierte Liberalismus in Deutschland hat zur Zeit eine Schwächephase. Das ist aber keine Krise des Liberalismus.

Was den organisierten Liberalismus angeht, machen Sie eine inhaltliche Krise aus.

Genau. In Deutschland ist man immer schnell dabei, Person X durch Person Y auszutauschen. So, meint man, würde es besser. Aber man ist von den liberalen Grundsätzen abgewichen. Das ist der Grund für die Schwäche der FDP in Deutschland. Das Steuerrecht beispielsweise war 2009 eins unserer grossen Themen. Wir wollten die Bürger entlasten. Das Steuerrecht sollte einfacher und verständlicher gemacht werden. Steuerrecht ist in Deutschland unendlich kompliziert. Der Bürger ist gegenüber dem Staat in einer Bittstellung. Der Staat kommt obrigkeitsstaatlich daher. Dieses Verhältnis wollten wir eigentlich ändern. Als wir dann Gelegenheit dazu hatten, haben wir kläglich versagt, weil wir nicht das zuständige Ministerium gewählt haben: das Finanzministerium. Es waren letztendlich eigene Unzulänglichkeiten und Schwächen.

Sie sind Mitbegründer der Bewegung «Liberaler Aufbruch». Diese möchte «mehr Mut zu Recht und Freiheit». Das entspricht doch nicht dem Zeitgeist von Regulierung und Risikominimierung. Aktuelles Beispiel: In der Schweiz soll das Rauchen von E-Zigaretten in Zügen verboten werden.

Die Schweiz war meine letzte Hoffnung, was die Freiheit in Europa betrifft! Jetzt fangen die damit auch schon an. Das ist ja schlimm. Es ist natürlich schon so, dass es in Deutschland eine gesellschaftliche Mehrheit gibt, die weniger Freiheit, mehr Staat will. Mehr Zentralismus. Es gibt aber verlässliche Umfragen für Deutschland, die besagen, dass sich 20 bis 25 Prozent der Menschen liberal orientieren.

«Die FDP war beliebig»

Was schliessen Sie daraus?

Das ist meine Zielgruppe. Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und selbst gestalten wollen, sich nicht vom Staat sagen lassen, was gut oder schlecht ist. Auf diese Bürger sollten wir uns konzentrieren. Wir haben leider den historischen Fehler gemacht, uns an die anderen 75 Prozent gewandt haben. Wir haben geglaubt, dass wir damit beliebt werden. Das Problem war, dass wir anschliessend beliebig waren. Statt uns zu mögen, hat man uns für unsere Prinzipienlosigkeit eher verachtet. Deshalb meine ich, müssen wir uns an die 25 Prozent wenden, die eine freiheitliche Gesellschaft wollen. Das kriegt man nicht ganz schnell gedreht, das ist ein mittel- bis langfristiger Prozess. Daran müssen wir jetzt natürlich ausserparlamentarisch arbeiten. Wir haben eine starke kommunale Verankerung. Wir sind auch in den Landesparlamenten stark vertreten. Ich will dazu beitragen, dass wir in Deutschland jetzt eine Graswurzelbewegung der Freiheit starten. Viele Freiheitsinseln zusammen geben am Ende einen Kontinent.

Die von Ihnen beschriebene liberale Gruppe gibt es in der Schweiz auch. Die wählen heute oft Grünliberale. In Deutschland gibt es die Alternative für Deutschland (AFD). Wie gross schätzen Sie die Gefahr durch solche «Trittbrettfahrer-Bewegungen» ein?

Sie sind natürlich zu einer realen Gefahr geworden. Wir haben 4,8, die andern 4,7 Prozent erzielt. Das Aufkommen der AFD hat den Einzug der FDP in Deutschland eindeutig verhindert. Uns fehlten 80 000 Stimmen. Das ist in Deutschland nicht viel. 450 000 Stimmen sind von der FDP zur AFD gewandert. Wir hätten also nur einen Teil davon gebraucht, um wieder in den Bundestag einzuziehen. Wir haben natürlich auch zwei Millionen Wähler an die konservative CDU/CSU verloren. Um beide Wählerströme haben wir uns nicht ausreichend gekümmert. Sonst wären wir wieder im Deutschen Bundestag.

Um die rund 300 000 Deutschen in der Schweiz haben sich die Parteien erstaunlich wenig gekümmert. Im letzten Schweizer Wahlkampf spielten die Auslandschweizer immerhin am Rande eine Rolle.

Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wähler sind es halt nicht sehr viele. In der FDP haben wir schon eine Auslandsgruppe. Wir bemühen uns da an sich schon. Wegen der Grössenverhältnisse ist das aber vielleicht nicht so im Fokus.

Wenn Sie die beiden libealen Parteien in Deutschland und der Schweiz vergleichen müssten: Welche Unterschiede stechen ins Auge?

Die FDP in der Schweiz hat eine ganz andere Tradition. Sie ist die tragende Partei der Schweiz – immer gewesen. Einen Vergleich kann man eigentlich gar nicht ziehen. Weil Sie ja auch ein anderes Regierungssystem haben. Aber ich stelle natürlich schon fest, dass im bürgerlichen Lager Wettbewerb entsteht. Auch die Schweizer FDP hat zu kämpfen – natürlich auf einem anderen Niveau.

Inhaltlich will die Schweizer FDP vermehrt auf Ökologie setzen und distanziert sich von der Wirtschaft. Man möchte das Etikett der «Wirtschaftspartei» loswerden. Ein guter Weg?

Ich glaube, eine freiheitlich orientierte Partei sollte sich weniger nach wirtschaftlichen Gruppierungen oder an Interessenslagen Einzelner orientieren. Sie sollte das Individuum, die Marktwirtschaft im Fokus haben. Eine liberale Partei sollte bemüht sein, gleiche Regeln für alle zu schaffen. Sie sollte dem Versuch nicht erliegen, Partikularinteressen zu vertreten. Wir in Deutschland mussten sehr bitter dafür zahlen, dass wir bei der Mehrwertsteuer eine Ausnahme geschaffen haben für Hotelübernachtungen. Das wurde als Zugeständnis an die Hoteliers gewertet. Was es auch ein Stück weit war. Wir hatten gute Argumente. Auch im Ausland gibt es solche Regelungen. Im Nachhinein finde ich, das ist uns auch ein bisschen zu Recht um die Ohren geflogen.

«Der Staat ist in Deutschland ein Heilsbringer»

Man kann als Partei nicht Steuervereinfachungen fordern. Und dann bei einem steuerlichen Thema für eine weitere Ausnahme sorgen. Das passt nicht zusammen. Da macht man sich angreifbar. Das war ganz breit an Parteitagen beschlossen worden. Da hat die FDP ein programmatisches Problem. Wir müssen uns fragen, was tatsächlich den Staat stärkt, was Bürokratie abbaut.

Die FDP Schweiz ist mit ihrer Bürokratieabbau-Initiative gescheitert. 

Bürokratie baut man am ehesten durch weniger Staat ab. Deshalb ist es schlau, wenn man dem Staat keine übermächtige Rolle beimisst. Der Staat ist in Deutschland der Heilsbringer, der alle Probleme löst. In Deutschland wird nach dem Staat gerufen und dann wundert man sich, wenn Bürokratie entsteht. Da gibt es ganz viele Beispiele. Ich habe fünf Hühner und einen Hahn. Neulich war ich bei meinem landwirtschaftlichen Hauptverein. Als Scherz habe ich gefragt, wann ich denn jetzt Mitglied der landwirtschaftlichen Altersvorsorge sei. Da bräuchte ich ein paar Hühner mehr, war die Antwort. Aber bei der Seuchenkasse sei ich Mitglied. Daran sieht man, wie regelungsdicht Deutschland ist.

2009 ist Guido Westerwelle nach Bern gekommen. Der damalige FDP-Parteipräsident Fulvio Pelli hat ihn durchs Bundeshaus geführt. Die Freundschaft wurde betont. Wie war die Reaktion nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag?

Sie haben immerhin meine Einladung in die Kartause Ittingen aufrechterhalten. Ich meine, ich bin ja nicht mehr Mitglied im Deutschen Bundestag. Ich mache Politik jetzt ehrenamtlich. Ansonsten sind die Kontakte zwischen der Schweizer und deutschen FDP immer sehr gut gewesen. Sehr freundschaftlich.

Ist es für die Schweizer FDP nicht ein Nachteil, nicht auf europäischer Ebene, konkret im Europäischen Parlament, vertreten und eingebunden zu sein?

Nein. Die liberale Alde-Fraktion im Europäischen Parlament ist eh ein Sammelsurium unterschiedlicher Interessen. Das Europäische Parlament folgt in der Zusammensetzung der Fraktionen viel weniger dem Verfolgen gemeinsamer Überzeugungen. Da spielen andere Überlegungen eine Rolle. Wir haben mit den Schweizer Liberalen sicher viel, viel mehr gemeinsam als mit den britischen. Das sind eher Sozialdemokraten. Ich fühl mich auch deshalb in der Schweiz so wohl, weil die Schweizer FDP viel eher der Idealvorstellung einer liberalen Partei entspricht als das eben zu Hause der Fall ist. Wenn wir in Deutschland – auch innerhalb der FDP – mehr Schweiz wagen würden, dann wären wir auch erfolgreicher. Wir sollten uns hier eine Scheibe abschneiden.

Mit Philipp Müller an der Parteispitze hat sich auch der Stil des Schweizer Freisinns ziemlich verändert. Sein Vorgänger Fulvio Pelli galt als besonnen. Müller provoziert gerne. Darf das ein Parteipräsident?

Der Vorsitz einer Partei ist keine Schlafwagenveranstaltung. Als Partei muss man sichtbar sein, Unterschiede klar machen. In der Schweiz geht es ja auch darum, das bürgerliche Lager wieder schlagkräftig zu machen. Dafür braucht es auch eine starke FDP.

Philipp Müller ist Gipser. Wäre in Deutschland ein Parteipräsident mit einem handwirklichen Hintergrund denkbar?

Natürlich. Die FDP ist ja traditionell stark von selbstständigen Handwerkern gewählt worden. In der Schweiz ist man beruflich erfolgreich und geht gleichzeitig in die Politik. So etwas gibt es in Deutschland nicht oder nur ganz selten. Das ist eigentlich ein Mangel. Diese Personen bringen Lebenserfahrung aus ihrer beruflichen Situation mit. Denen kann man nichts vormachen.

Ein Plädoyer fürs Milizsystem.

Absolut. Ich bin grosser Anhänger Ihres Milizsystems. Die Politik in der Schweiz nimmt sich da zurück. Es gibt in der Schweiz eben nicht das Primat der Politik. Es gibt Gegenmächte. Je öfter ein Parlament tagt, desto mehr Anfragen werden geschrieben, die beantwortet werden wollen. Es kommt zu einem Bürokratie-Boost, ohne dass die Politik dadurch besser wird. Wenn ein Politiker im Parlament ist, will er ja nachher was vorweisen. Aus Sicht eines Abgeordneten geht es um Möglichkeiten für Leistungsnachweise. Ein Parlamentsbetrieb: Es ist auch ein Stück weit Inzucht, was da stattfindet. Man bewegt sich in einem Hamsterrad, ohne dass das politische System nach vorne gebracht wird. Deshalb find ich, die Schweiz sollte ihr Milizsystem möglichst lang aufrecht erhalten. Ich weiss: In der Praxis ist das nicht immer einfach, Karriere und Politik unter einen Hut zu bringen.

Sie selber sind nicht mehr im Parlament. Wie schwer fällt Ihnen ganz persönlich die Neuorientierung?

Sehr schwer. Als Abgeordneter in Deutschland ist man natürlich extrem verwöhnt. Wenn von einem Tag auf den andern die Mitarbeiter wegfallen, die alles organisieren, dann ist das hart. Man wird quasi resozialisiert.

«Ich bin noch resozialisierbar»

Es gibt Kollegen, die sagen, wer länger als zwölf Jahre im Deutschen Bundestag sitzt, ist nicht mehr resozialisierbar. Ich war nur acht Jahre Mitglied. Da besteht noch Hoffnung.

Sie blühen in dieser Krise aber auf.

Ja. Ich denke, man lernt im Leben eher durch Fehler und Rückschläge. Das gilt für mich, aber auch für die Partei. Ich denke durchaus, dass die FDP aus der Situation Gewinn schlagen kann. Wenn die FDP die richtigen Schlüsse zieht, kann sie am Ende profitieren. Die Liberalen müssen sich für Marktwirtschaft und Recht einsetzen – im Zweifelsfall gerade dort, wo es wehtut. Durchzuhalten ist die historische Aufgabe der FDP. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit.

Freiheit heisst ja auch Verantwortung übernehmen. Kandidieren Sie deshalb am Bundesparteitag Anfang Dezember fürs Präsidium?

Absolut. Wir müssen jetzt den Laden am Laufen halten. Dazu möchte ich beitragen. Deshalb wage ich es, zu kandidieren.

Wie wird sich die Situation der Liberalen in zehn Jahren präsentieren?

Ich hoffe, dass die Marktwirtschaft in Europa doch noch eine Chance hat. Meine Hauptsorge ist der europäische Zentralismus, der unsere Freiheit immer stärker einschränkt. Probleme werden nicht gelöst, höchstens verwaltet. Wenn in zehn Jahren liberale Parteien in Deutschland und der Schweiz stärker sind als heute, dann ist das ein Zeichen, dass ein gewisses Umdenken stattgefunden hat. An diesem Umdenken müssen wir unsere Arbeit messen, nicht an Wählerprozenten.

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