Das von der schwarz-gelben Koalition definierte deutsche Interesse in der europäischen Staatsschulden-, Banken- und Währungskrise ist klar: Der deutsche Haftungsrahmen soll auf 211 Mrd. Euro beschränkt bleiben. Er soll keinesfalls ausgeweitet werden, hieß es schon im Rahmen der Diskussion um die Hebelung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF).
Noch vertritt die Bundesregierung diese vernünftige Position auch bei der Begrenzung der unvernünftigen Hilfen. Deshalb widersteht sie dem europäischen Drängen, die Kreditkapazitäten von EFSF und Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) parallel zu nutzen. Bundesregierung und Koalition tun gut daran, an diesem Ziel festzuhalten. Denn je höher der deutsche Haftungsrahmen ist, desto höher ist das deutsche Risiko.
Ein Faktor zur Erhöhung dieses Risikos wird jedoch derzeit übersehen. Er ist versteckt im Text des Vertrags zur Einrichtung des ESM. Nach Artikel 8 Absatz 5 ist die Haftung der ESM-Mitglieder auf den Anteil des genehmigten Stammkapitals zum Ausgabekurs beschränkt. Der ESM hat ein nominales genehmigtes Stammkapital von 700 Mrd. Euro. Doch der Teufel steckt im Detail: Zwar müssen die ersten Anteile für 80 Mrd. Euro zum Nominalwert ausgegeben werden, sodass der ESM von seinen Mitgliedern genau 80 Mrd. Euro erhält. Das gilt aber nicht für die übrigen Anteile im Nominalwert von 620 Mrd. Euro. Der Gouverneursrat kann beschließen, diese zu einem höheren Ausgabepreis auszugeben.
Das Prinzip funktioniert ähnlich dem bei einer Aktiengesellschaft, die eine Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital vornimmt. Eine Aktiengesellschaft kann junge Aktien emittieren und erhält für diese von den neuen Anlegern an der Börse nicht den Nominalwert der Anteile, sondern ein Vielfaches. Der Ausgabepreis orientiert sich an dem Preis, zu dem die alten Aktien an der Börse gehandelt werden. Der ESM darf es genauso machen: Er kann seine Anteile zum Vielfachen des Nominalwerts ausgeben.
Doch anders als bei einer Aktiengesellschaft orientiert sich der Ausgabepreis für neu auszugebende Anteile des ESM nicht an einem Börsenpreis. Sie werden an keiner Börse gehandelt. Niemand würde sie kaufen, denn sie sind wirtschaftlich wertlos. Ihr Ausgabepreis wird daher rein politisch bestimmt.
Der Gouverneursrat des ESM könnte beispielsweise beschließen, in einer zweiten Tranche Anteile im Nominalwert von 120 Mrd. Euro zu einem Ausgabepreis von 960 Mrd. Euro auszugeben. Er hätte dann ein Kapital von 80 Mrd. Euro aus der ersten und 960 Mrd. Euro aus der zweiten Tranche eingesammelt, insgesamt 1040 Mrd. Euro. Er hätte aber nur 200 Mrd. Euro von seinem Nominalkapital von insgesamt 700 Mrd. Euro verbraucht. Das lässt Raum für viele weitere Kapitalerhöhungen aus genehmigtem Kapital.
Im Grunde ist die Ausgabe von Anteilen zu einem höheren Preis als dem Nominalwert eine Volumenhebelung. Dem Hebel ist durch den Vertrag selbst keine Grenze nach oben gesetzt. So könnte der Gouverneursrat sogar beschließen, alle nach Ausgabe der ersten Tranche noch übrigen Anteile im Nominalwert von 620 Mrd. Euro mit einem Hebel von zehn auszugeben. Das Volumen des ESM stiege dann um 6200 Mrd. Euro.
Der Vertrag über den ESM ist bereits unterzeichnet worden. Nachbesserungen am Vertragstext zur entscheidenden Frage der Begrenzung des Volumens sind nicht mehr möglich. Entscheidend kommt es daher auf die Beschränkung der im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel an. Hier besteht noch ganz erheblicher Nachbesserungsbedarf.
Denn nach dem bisher vorliegenden Entwurf des Ratifizierungsgesetzes vom 2. März erfordert nur die „Erhöhung des genehmigten Stammkapitals“ eine bundesgesetzliche Ermächtigung. Doch daran, an der Höhe des genehmigten Stammkapitals, hängt die deutsche Haftung gar nicht. Die deutsche Haftung hängt am Ausgabepreis der Anteile des ESM. Und der ist grenzenlos!
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Financial Times Deutschland
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