Der geplante Maulkorb für Abgeordnete zeigt ein „kastriertes“ Verständnis der parlamentarischen Demokratie. Die Fraktionsbürokraten sehen eine Plenardebatte im Bundestag als die Rechtfertigung und Erläuterung der Fraktionsmeinung vor der Öffentlichkeit. Deshalb relativiere sich ein Anspruch des einzelnen Abgeordneten auf ein eigenes Rederecht im Plenum. Diese Auffassung wird unserem verfassungsrechtlichen Status als an Weisungen nicht gebundene Vertreter des gesamten Volkes nicht annähernd gerecht. Wenn diese Auffassung zuträfe, hätte die parlamentarische Rede nicht mehr Bedeutung als der Vortrag eines Pressesprechers.
Die notwendige Folge ist, dass die demokratische Willensbildung nicht im Plenum, sondern im Vorfeld, etwa in der Fraktion, stattfinden muss. Dort wird hinter verschlossenen Türen getagt. Die Willensbildung dorthin zu verschieben ist nicht transparent und einer Demokratie unwürdig. Denn zur Demokratie gehört auch und gerade die Öffentlichkeit. Wir führen demokratische Debatten, weil wir glauben, dass der Wettbewerb der Argumente zu einem besseren Ergebnis führt. Demokratie ist ohne öffentliche Debatte daher gar nicht denkbar. Deshalb ist die Meinungsfreiheit das vornehmste demokratische Grundrecht.
Meinungsfreiheit ist insbesondere auch ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat und somit ganz wesentlicher Kernbestandteil allen liberalen Denkens. Die Meinungsfreiheit findet ihre parlamentarische Entsprechung in der freien Rede während der Plenardebatte. Ob im öffentlichen Diskurs oder im Parlament, es ist keine überzeugende Botschaft, den Wert der Meinung eines Kollektivs über die Meinungsäußerungsfreiheit des Einzelnen zu stellen.
Unser Recht soll die Meinungsäußerungsfreiheit und unsere anderen Freiheiten sichern. Nicht nur, wenn wir an die rechtliche Ausgestaltung unserer Geschäftsordnung im Bundestag denken, sondern immer, wenn wir Recht gestalten, sollten wir uns den großen katholischen Liberalen Lord Acton ins Gedächtnis rufen. Er definierte die Freiheit wie folgt: Erstens: Sicherheit für alle Minderheiten. Zweitens: Vernunft regiert über Vernunft und nicht der Wille über den Willen. Drittens: Von Menschen ungehinderte Pflichterfüllung gegen über Gott. Viertens: Vernunft vor dem Willen. Fünftens: Recht über Macht.
Wer so handelt, ist ein Liberaler.
Dieser Beitrag erschien zuerst in eigentümlich frei.
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